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Was wir lesen #1

Was wir lesen #1

So viel Zeit muss sein – Porträt von Frank

Was wir lesen

Buchvorstellung #1

Elisa hatte den Vorschlag gemacht, dass wir uns gegenseitig die Bücher vorstellen, die uns derzeit am meisten gefallen, wie sich herausstellte, auf Grund eines kindlichen Traumas, weil sie als Fünfjährige damals noch kein „richtiges“ Buch vorstellen konnte mangels entsprechender Lesefähigkeiten. Aber schon damals soll sie sich zu helfen gewusst haben und kam mit „Petterson und Findus“ um die Ecke.

Unsere erste Buchvorstellungsrunde folgte keinem Thema. Jede(r) sollte ein Buch vorstellen, das ihm oder ihr am Herzen lag, und von dem er/sie denkt, es sei sehr lesenswert, mehr nicht.

Es gab fünfzehn Minuten pro Vorstellung und ein bisschen Zeit für die Ah‘s und Oh’s. Zwei alte weiße Männer saßen am Tisch, zwei gut erhaltene reifere Damen und zwei Früherwachsene, noch kinderlose, aber schon gut erzogene künftige Stützen unserer Gesellschaft.

Das Los erwählte mich, Frank Georg, zum ersten Vorsteller, und ich hatte mir Anne Applebaums „Roter Hunger“ ausgesucht.

Dieses Buch hat mich sehr beeindruckt, weil es die Geschichte der Entstehung der Ukraine als Staat, die eng verbunden ist mit der Geschichte der Entstehung der Sowjetunion, erzählt, mit dem furchtbaren „Höhepunkt“ der bewusst oder unbewusst von Stalin herbeigeführten Hungersnot von 1932/33, die Millionen Menschen das Leben kostete, ein furchtbares Lehrstück über die Folgen staatlich verordneter Umwälzungen, die eher einer Ideologie als rationalen Zielen entspringen.

Was auffällt ist, dass es zwischen der Ukraine und Russland schon vor hundert Jahren genauso, eher schlimmer zuging als heute: Krieg und Bürgerkrieg, Kampf gegen oder um die Benutzung einer Sprache, Entführung und Mord von Künstlern und Intellektuellen oder anderer lokaler Eliten. Anne Applebaum hat eine sehr strukturierte und flott zu lesende Art zu schreiben. Das Buch ist eine einzige atemlose Lektüre, spannend, informativ, aber nichts für zarte Gemüter, denn wenn es irgendwo noch drastischer zugegangen ist als in Deutschland unter den Nazis, dann dort.

Ich empfehle dieses Buch für jeden, der verstehen will, was da gerade zwischen Russland und der Ukraine abgeht.

Die zweite Vorstellende war Jana, die Geflochtenes Süßgras von Robin Wall Kimmerer vorstellte. Dieses Buch hat sich über eine Zeit von mehreren Jahren zum internationalen Bestseller entwickelt, kein Produkt also einer besonders raffinierten Marketing-Kampagne.

Die Autorin ist Botanikerin, Abkömmling der Potawatomi, die an den großen Seen ansässig waren. Jana sagte den schönen Satz: Sie verbindet Wissenschaft mit Wissen. Was sie meinte: sie verbindet auf sprachlich eindrückliche Weise (die deutsche Übersetzerin Elsbeth Ranke wurde sehr lobend erwähnt) das uralte Wissen ihres Stammes mit den modernen Methoden der Naturwissenschaft, z.B. im Zusammenhang mit den drei Schwestern, dem Mais den Bohnen und dem Kürbis, die zusammen angepflanzt sich gegenseitig beschützen und unterstützen. Der Mais wächst hoch und kräftig, an ihm kann sich die Bohne emporranken, er spendet Schatten. Des Kürbis‘ große Blätter bedecken den Boden und verhindern, dass er austrocknet und halten das Unkraut in Schach. Aber man wusste nicht, ob auch die Bohne etwas beisteuert. Heute weiß man, dass sie den Boden mit Stickstoff düngt.

Diese Sache mit den drei Schwestern steuerte Helga bei, die Co-Vorstellerin des Buches.

Ein weiteres Detail betraf einen Widerstand gegen die pledge of allegiance, den Treueschwur der Amerikaner (den Elisa noch vollständig aufsagen konnte), weil Freiheit und Gerechtigkeit für alle sich für einen „Indianer“ schal und verlogen anhört.

Schöner und sinnvoller wäre doch ein Dankbarkeitsritual, zum Beispiel Dank an alle Tiere, unsere Gedanken und Herzen sind vereint. So ein Ritual würde einem das Gefühl vermitteln, reich zu sein (und nicht Teil einer Anhäufungsgesellschaft). In einer Konsumgesellschaft ist Zufriedenheit ein subversiver Gedanke, ein radikaler Vorschlag. Die Leistungsgesellschaft braucht ein Gefühl der Leere, gegen die eine Ethik der Fülle zu setzen wäre.

Ein schöner Satz war noch: Wenn man gehört werden will, muss man die Sprache dessen sprechen, der zuhört.

Und es ging noch um die ehrenhafte Ernte. Indianer haben die Hälfte der Ernte stehen lassen. Fallenstellerei war ihnen ein unehrenhaftes Verhalten. Es erinnert mich an mein Lieblingsbuch der Jugend „Die Söhne der großen Bärin“, wo einem getöteten Bären im Bärentanz die letzte Ehre erwiesen und sein Geist versöhnt wurde.

Jana empfiehlt das Buch „Geflochtenes Süßgras“ als eine sehr erbauliche und beglückende Lektüre.

Dann wurde die Initiatorin der Runde gezogen, Elisa, und ihr derzeitiges Lieblingsbuch ist „Lessons in chemistry“, deutscher Buchtitel: „Eine Frage der Chemie“ von Bonnie Garmus.

Ich habe herausgehört, dass dieses Buch sie sehr motiviert, sich von widrigen Umständen und/oder Schicksalsschlägen nicht entmutigen zu lassen. Die Hauptheldin ist schon als Kind eine „Hemdblusenkleiderhosen-Trägerin gewesen. Sie kämpft gegen Männer, die sich ihr in den Weg stellen. Es ist ein wirres Sammelsurium an Widerständen, mit denen Elizabeth Zott in den Fünfzigern und Sechzigern in den USA zu kämpfen hat. Sie kann nicht promovieren, weil sie sich gegen eine Vergewaltigung wehrt. Sie findet einen, den sie liebt, „weil“ er ihr vor die Füße gekotzt hat, will ihn aber nicht heiraten, weil sie ihren Namen nicht behalten dürfte. Ihnen läuft ein Hund zu, den sie Halbsieben nennen, die Gemeinde führt einen Leinenzwang für Hunde ein, der Hund erschrickt, zerrt an der Leine, ihr Mann fällt zu Boden und wird totgefahren. Halbsieben ist totunglücklich.

Der Hund hat aber eine Menge guter Fähigkeiten (es ist ein ehemaliger Sprengstoffspürhund), kommuniziert mit dem Kind in ihrem Bauch und dem toten Mann unter der Erde. Er rettet sie, als sie, mittlerweile Gastgeberin einer Fernsehkochshow, von wütenden Evangelikalen mit dem Tode bedroht wird, weil sie offenbart hat, dass sie nicht an Gott glaubt. Im Grunde ist es ein Buch über eine Frau, die an vielen Stellen gegen die Normen der Zeit lebt und deshalb in eine Menge schwierige Situationen gerät.

Elisa empfahl das Buch wärmstens auch zum Englisch lesen und lernen. Sie hat ihr Exemplar, wo sie die schwierigen Wörter schon mal übersetzt hat, dagelassen.

Dann war Henrik dran, einer der zwei alten weißen Männer, der zunächst, wie sich später herausstellte, um die Runde ein wenig heiterer zu stimmen, Heinrich Heine „Aus den Memoiren des Herrn Schnabelewobski“ vorlas – und obwohl ich mich als Freund Heines betrachte, hatte ich davon noch nie etwas gehört. Es ging um den Fliegenden Holländer, der erst Frieden findet, wenn eines Weibes Treue ihn erlöst, was selbstverständlich schwerhält.

Das war sehr amüsant, aber Henrik wollte uns eigentlich Theodor Plieviers „Stalingrad“ und die Plievier-Biographie „Anarchist ohne Adjektive“ von Wolfgang Haug nahebringen. Und so hat er es charmant geschafft, die Regel zu umschiffen, nur ein Buch vorzustellen. Ich bleibe mal hier bei „Stalingrad“, ein Buch, das auf Augenzeugenberichten beruht, denn Plievier war damals in Moskau, sollte Briefe deutscher Soldaten auswerten und durfte Überlebende interviewen. Das Buch ist also von weitgefächerten Erfahrungen bestimmt. Es ist Teil einer Trilogie, zu der noch „Moskau“ und „Berlin“ gehören. Weil er halt den Schnabelewobski vorgelesen hatte, blieb nicht mehr viel Zeit, aber mein Interesse ist geweckt.

Henrik empfiehlt diese Bücher, weil sie einfach interessant sind.

Last but not least begann Angelo mit einem Prolog, der sich wie der Beginn eines Thrillers ausnahm, die Landung einer Anti-Wildlife-Crime-Unit im philippinischen Urwald aus der Sicht des Fotografen beschrieb, die ein Gelände von allen Seiten stürmen sollten, um Wilderern das Handwerk zu legen. Der Fotograf wundert sich für den Leser ein wenig, dass er als 32-jähriger Meeresbiologe und Wehrdienstverweigerer hier ehrenamtlich und unbezahlt auf Verbrecherjagd geht, denkt über die Vor- und Nachteile eines Messers mit feststehender Klinge als Bewaffnung im Nahkampf (unter sieben Meter) nach.

Aber: es handelt sich um ein Sachbuch: „Mission Erde“ von Robert Marc Lehmann, dem ehemaligen Leiter des Ozeaneums in Stralsund, dem er jedoch den Rücken kehrte, als er mit der Zoo- und Aquarium-Industrie brach. Nun zieht er durch die Welt, rettet Regenwald, Orcas, Schildkröten und versucht, als Vortragender in Schulen, bestimmt auf Insta oder sonstwo so viele wie möglich Menschen zu erreichen. Angelo konzentrierte sich auf Lehmanns Zusammenarbeit mit der Orca-Forscherin Ingrid Visser, erzählte von den Langfristfolgen der Havarie der Exxon Valdez 1989 für die Population dieser Wale.

Angelo empfiehlt das Buch, weil er den Robert Marc schon lange im Internet verfolgt und begeistert von seinem Engagement ist.

Vielen Dank, liebe Elisa, für die Idee, hat viel Spaß gemacht – und es ist doch erstaunlich, wie unterschiedlich die Bücher waren, von dem ganz aktuellen Thema der Rettung des Planeten (und damit vielleicht auch der Menschheit) bei Angelo (27) über den Versuch, alte und neue Weisheiten zu versöhnen bei Jana (54) hin zu einem Roman, der sich mit dem Prozess der Erlangung der Gleichberechtigung der Frau bei Elisa (21) (O-Ton: in Deutschland sind Frauenrechte schon ziemlich equal zu denen der Männer), bis zu den in den Tragödien des letzten Jahrhunderts versunkenen VAWM (60 und 65), auch wenn Frau Applebaum als Autorin nicht zu dieser Kategorie zählt, obwohl sie auf die 60 zugeht.

Vielleicht schaffen wir es Weihnachten das nächste Mal, so eine Büchervorstellung zu veranstalten.

Buch – Reiselektüre vor Weimar – Goethe und Schiller

Buch – Reiselektüre vor Weimar – Goethe und Schiller

Goethe und Schiller

Buch #5

Es klopft das Herz, geschwind zu Pferde,
es war getan, fast eh gedacht …

Ganz so ist es nicht. Die Unterkunft für unseren Pfingstausflug nach Weimar ist lange gebucht, es geht auch mit dem Corolla dahin, obwohl man sich den Namen auch als den eines Pferdes vorstellen könnte. Die Nacht wird auch keine tausend Ungeheuer gebären, weil wir wahrscheinlich am hellerlichten Tag fahren werden, und es geht auch nicht ZUR Geliebten nach Weimar, sondern MIT der Geliebten … Frau nach Weimar. Und sie kommt auch wieder mit zurück. 

Und doch, welch Glück, geliebt zu werden, und lieben, Götter, welch ein Glück.

Weimar. Das hat sie sich als Pfingstausflug zu ihrem Geburtstag gewünscht. 

Und weil ich gerade auf dem Trip bin, jede nächste Lektüre auszulosen, habe ich Lose mit allen im Hause verfügbaren Werken von Goethe und Schiller gemacht. Jeder durfte dreimal ziehen und musste sich dann davon ein Werk aussuchen, das er bis zum Pfingstausflug liest. 

Denn immer noch ist es ein Genuss, auch wenn manches schwer verständlich scheint. 

Ich habe aus meinen drei Losen „Die Räuber“ von Friedrich Schiller ausgesucht. 

Meine Liebste hat von Goethe „Gedichte“, „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ und „Die natürliche Tochter“ gezogen, sich aber noch nicht entschieden, welches davon sie liest. 

Sie neige dazu, sich zu drücken, sagte sie. 

Vor vielen Jahren habe ich einmal von Schiller den „Wilhelm Tell“ gelesen.

Der brave Mann denkt an sich selbst zuletzt. Vertrau auf Gott und rette den Bedrängten.

Das hat mich so beeindruckt, dass ich eine moderne Coverversion als Kurzgeschichte geschrieben habe, eine depressive Ausgabe des modernen deutschen Mannes. Nachzulesen hier. 

Goethe und Schiller sind, wenn man sie liest, wie die Erfinder von zwei Dritteln aller deutschen Sprichwörter. 

Nach Weimar zu fahren ist ein guter Anlass, mal wieder etwas von den großen deutschen Dichtern zu lesen und sich zu fragen, ob es wohl heute jemanden gibt, der so groß schreibt und denkt. 

Heinrich Heine, einer der anderen großen deutschen Dichter, für den es heute seinesgleichen nicht gibt, hat geschrieben:

„Ihr Franzosen könnt Euch keinen Begriff davon machen, wenn Ihr die Sprache nicht kennt. Diese Goethischen Lieder haben einen neckischen Zauber, der unbeschreibbar. Die harmonischen Verse umschlingen dein Herz wie eine zärtliche Geliebte; das Wort umarmt dich, während der Gedanke dich küsst.“* 

Und Schiller? Er scheint rebellischer in seinen Texten. Wie eine Metapher für unsere heutige Zeit wirken die Worte, die er Karl von Moor in den Mund legt: „Das Gesetz hat zum Schneckengang verdorben, was Adlerflug geworden wäre. Das Gesetz hat noch keinen großen Mann gebildet, aber die Freiheit brütet Kolosse und Extremitäten aus. Sie verpalisadieren sich ins Bauchfell eines Tyrannen, hofieren die Laune seines Magens und lassen sich klemmen von seinen Winden.“ 

Weimar, bestimmt schön, aber wahrscheinlich auch zur Puppenstube verkommen, weil Puppenstubenhaftigkeit das ist, was wir heute unter blühenden Landschaften verstehen. Nun denn, auf nach Weimar. Gemütlich im Nationaltheater zu einem Wein und einem Schnittchen Shakespeares „Der Sturm“ anschauen. Mal shoppen gehen und den Odem der Klassiker einatmen, die letzten homöopathischen Geistteilchen ihrer Aura. 

Dahin, dahin. Die großen Würfe, denn was wird aus diesem Text werden? 

Eine Insta-Story.
Wein(e)-Smiley. 

🍷🤭

* Heinrich Heine „Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland“

So viel Zeit muss sein – Buch – Auswahl von Goethe
So viel Zeit muss sein – Buch – Schiller "Die Räuber"
(J) Buch #4 Unorthodox

(J) Buch #4 Unorthodox

Unorthodox

Buch #4

Ein Buch von Deborah Feldman, erschienen 2015 im Seccion-Verlag.

 

Interview – Buch – Film

Als „Verfolgerin“ des Podcasts „Alles gesagt“ von Zeit online hatte ich das Gespräch mit der Autorin Deborah Feldman gehört. Ich war sehr beeindruckt.

Beim Hören des Interviews fiel mir ein, dass ich ihr erstes Buch „Unorthodox“ schon längere Zeit besitze, jedoch bisher nicht gelesen hatte. In diesem Buch erzählt sie von ihrer Kindheit in der ultraorthodoxen jüdischen Glaubensgemeinschaft der Satmarer in Williamsburg, New York, bis hin zu ihrer Flucht aus eben diesen Verhältnissen. Was sie als selbstbefreienden Akt in Form eines Blogs begann, wurde im Weiteren ein spannendes und differenziertes Bild ihrer Kindheit in Form eines Buches. Es war 2012 in den USA erschienen und sofort ein Bestseller.

Ich kann mir gut vorstellen, dass sie mit der Entscheidung zur Flucht (ihren dreijährigen Sohn nahm sie mit) der extremen Armut und Einsamkeit in New York, der Unterstützung durch ihre Verlegerin und dem Zwang, in Manhattan zu wohnen, um vor einem „neutralen“ Gericht das Sorgerecht für ihr Kind zu erlangen, vielfach kapitulieren wollte. Auch der Erfolg ihres Buches ist nicht nur Bereicherung (in Form von finanzieller Freiheit), sondern auch gespickt mit Anfeindungen und Hass, oft unmittelbar auf der Straße. Sie flieht in die Anonymität aufs Land, um dann später nach Berlin umzusiedeln. In dieser Stadt lebt ihre Mutter.

Auch in Berlin ist sie Anfangs absolut einsam, entwickelt aber durch Neugier, Offenheit und Charme eine Kultur des Dialogs. Hier findet sie einen neuen Verleger, der ihr Buch auf Deutsch herausbrachte.

Ihre unkonventionelle und sehr offene Umgangsart mit fremden Menschen führt auch zu Begegnungen mit Maria Schrader und Alexa Karolinski. Mit ihnen entwickelt sie ihre Idee einer Filmserie, die schließlich als Miniserie bei Netflix produziert wird.

Das Spannende an dieser Serie, die in Berlin und New York spielt, ist vor allem die Sprache: Es wird in Jiddisch gedreht. Erstaunlicherweise ist das für mich als Zuschauerin überhaupt kein Problem. Ja, manchmal muss ich schmunzeln, wenn die jiddischen Wörter so einen „alt-‟deutschen Akzent haben und ich sie durchaus verstehe. Jedenfalls hat mich die Sprache eher noch näher in die Situation hineingebracht, als dass es mich gestört hätte.

 

Die Kurzzusammenfassung des Films von Wikipedia

„Die 19-jährige Esther „Esty“ Shapiro (geborene Schwartz) lebt im New Yorker Stadtteil Williamsburg in Brooklyn. Sie gehört der ultra-orthodoxen Religionsgemeinschaft der Satmarer Chassiden an und wächst bei ihrer Großmutter, einer Holocaust-Überlebenden aus Ungarn, auf. Esty geht auf Wunsch der Gemeinschaft eine arrangierte Ehe mit Yakov „Yanky“ Shapiro ein.

Die Ehe verläuft unglücklich, da das Paar sexuelle Probleme hat und Esther wegen anhaltender Schmerzen beim Geschlechtsverkehr nicht schwanger wird, so wie es von ihr erwartet wird. Ihr Mann Yakov möchte auf Druck der Familie die Scheidung, nicht wissend, dass Esther inzwischen doch ein Kind erwartet. An einem Sabbat verlässt Esther heimlich das Haus, um nach Berlin zu fliegen. Dort lebt ihre Mutter, die die Satmar-Gemeinschaft und somit auch ihr Kind schon früh verlassen hat, um ein selbstbestimmtes Leben als lesbische Frau zu führen.

In Berlin lernt Esther eine Gruppe Musikstudenten aus verschiedenen Ländern kennen und freundet sich mit ihnen an.

Während Esther in Berlin neue Freiheiten wie das Schwimmen im Wannsee und das Ausgehen für sich entdeckt, planen ihr Mann Yakov und dessen Cousin Moische, die ebenfalls nach Berlin fliegen, sie zurückzuholen. Esther erfährt von ihrer Mutter, dass diese sie nicht verlassen hat, wie Esther dachte, sondern ihr vor Gericht das Sorgerecht entzogen wurde. Außerdem versucht Esther, an der Musikakademie ihrer Freunde aufgenommen zu werden. Sie wollte zunächst im Fach Klavier antreten, entscheidet sich dann aber für das Singen.“

 

Der Film für mich

Mich hat die Umsetzung ihrer Geschichte als Film begeistert. Natürlich entspricht der Film nicht ihrer Biografie. Allerdings kann ich die Kritik am Film auch sehr gut nachvollziehen, werden doch alle Klischees über Juden und jüdisches Leben in Berlin bedient: Miethai, Frauenfeindlichkeit, Asexualität … trotzdem berührt mich der Film. Einziger Wermutstropfen: als Berlinerin ist der Schnitt zwischen den originalen Orten sehr anstrengend. Gerade am Kulturforum unterwegs steigt die Protagonistin im nächsten Moment in die U-Bahn Schönhauser Allee ein. Da musste ich mich manchmal kneifen.

 

Das Buch für mich

Die erste deutsche Buch-Ausgabe, die ich selbst besitze, ist im Übrigen von einem bekannten Berliner Typografen: Erik Spieckerman, zauberhaft gestaltet worden. Ganz im Stillen vermute ich, dass ihr Verlag (Secession-Verlag für Literatur) aus dem Stadtteil Neuköln, irgendwie mit dem Büro von Erik Spiekerman verbandelt ist. Ich nahm es in die Hand und blätterte und musste irgendwann unweigerlich im Impressum schauen, wer für die Gestaltung zeichnete. Das ist eher ungewöhnlich für mich. Inzwischen wurden von Deborah Feldman zwei weitere Bücher veröffentlicht. Allerdings ist sie damit zu Penguin Verlagshaus gewechselt.

Sowohl das Buch, als auch der Film haben mich schwer beschäftigt und begeistert. Und das Interview bei „Alles gesagt“ lege ich persönlich jedem ans Herz.

 

Meine Empfehlung: absolut lesens-, hörens- und sehenswert ⭐️ ⭐️ ⭐️ ⭐️ ⭐️

So viel Zeit muss sein – Buch #3 Feldman Unorthodox BIld 1
So viel Zeit muss sein – Letterladys #3 – Podcast Alles gesagt
So viel Zeit muss sein – Letterladys #3 – Netflix Unorthodox
So viel Zeit muss sein – Buch #3 Feldman Unorthodox BIld 2
So viel Zeit muss sein – Buch #3 Feldman Unorthodox BIld 3
(J) Buch #3 Trost

(J) Buch #3 Trost

Trost – Briefe an Max

Buch #2

Ein Buch von Thea Dorn, erschienen 2021 im Penguin-Verlag.

„Wie geht es Dir?“ wird Johanna von Max auf einer Postkarte gefragt.

Auf diese kurze Frage antwortet sie mit ellenlangen Briefen. Wut, Trauer, alle Trostlosigkeit lässt sie zynisch und gesellschaftskritisch in ihren Antwortbriefen aus.

Sie hat ihre Mutter in der ersten Welle der Corona-Pandemie verloren, die unbedingt einen Italienurlaub machen musste. Und sie ist verbittert, dass sie ihre Mutter zuerst einsam im Krankenhaus sterben und dann im Seuchensack ohne den riesigen Kreis aller „Familienmitglieder“ beerdigen muss. Sie leidet an den nicht gesprochenen Worten des Abschieds und der Verdrängung des Themas Sterben in unserer heutigen Gesellschaft.

Wie Trost und Seelenheil finden in gottfernen Zeiten? Wo hin mit Zorn, Trauer und Wut in Pandemie-Zeiten voller Verbote und Einschränkungen? Wohin mit den Dämonen der Erinnerung und Verzweiflung?

In diesem Brief-Roman wird bissige Gesellschaftskritik zielsicher mit der Geschichte der Philosophie verknüpft. Er ist der Versuch eine Antwort zu finden auf die Frage des gesellschaftlichen und auch persönlichen Miteinanders, wo uns doch gerade diese Pandemie zu Polarisierung und schwarz-weiß-denken treibt.

Unser Leben ist Endlich. „Bist Du bei Trost?“

 

Empfehlung: absolut lesenswert ⭐️ ⭐️ ⭐️ ⭐️ ⭐️

SovielZeitmusssein – Buch #1 – 1. Postkarte des Buches Trost von Thea Dorn
SovielZeitmusssein – Buch #1 – 3. Postkarte des Buches Trost von Thea Dorn
(F) Buch #1 Der stille Don

(F) Buch #1 Der stille Don

Der stille Don

(F) Buch #1

Michael Scholochow, 1928 erscheint der 1. Band von insgesamt vier

Hintergründe, gerade auch zum Stalinpreis und Literaturpreis 1965 findest Du hier bei Wikipedia.

Der stille Don hat mich angesprungen, weil der Film im MDR lief, der Film von 1957 von Sergej Gerassimow, und weil ich beim Aufteilen der Bücher meiner Mutter dachte: könnte ich doch mal lesen. Weiß der Geier, wozu man solche alten Bücher liest. Nützt mir das etwas? Die Bilder von Filmplakaten rechts, die Jana rausgesucht hat, sagen, dass es um eine Liebesgeschichte geht. Sie bedienen (noch nicht mal unterschwellig) eine erotische Sehnsucht nach wilder, wahrer Liebe. Und das steckt in der Liebe zwischen Grigori und Aksinja, die die 1800 Seiten vom Anfang bis zum Ende durchzieht, auch tatsächlich drin.

Aber der Zauber des Buches liegt nicht in der Liebesgeschichte, sondern in der erst unmerklichen, dann wie eine Flut über das Leben sich ergießenden Zeitenwende, und wie sie erzählt wird. Wie die Leute versuchen, ihr normales Leben aufrechtzuerhalten, wie sie weiter säen und ernten, wenn sie können, wie die Frauen und die Alten die Arbeit der Männer übernehmen, um durch die verrückten Zeiten zu kommen, wie sie unentschieden sind, wem sie vertrauen sollen. Und am Ende, das weiß der Leser, kann kein Happy End stehen, denn die Sowjetmacht, die in diesem mit dem Stalinpreis ausgezeichneten Buch nicht besonders gut wegkommt, steht erst am Anfang, hat ihre eigenen Nöte, schickt Beschaffungskommandos über Land, die den Bauern und den Kosaken das Korn wegnehmen. Und die tun genau das, was man ihnen vorwirft: sie vergraben und verstecken, was sie können. 

Es wird viel erschossen und niedergesäbelt (um Munition zu sparen), auch Grigori hat viele Menschenleben auf dem Gewissen, auch wenn er sein Kerbholz eher in den Schlachten erst des Weltkrieges, dann des Bürgerkrieges füllt, nicht in den Erschießungskommandos.

Es ist ein Buch, das erzählt was war, nicht verurteilt, keiner Seite wirklich den Vorzug gibt, außer dass es eher auf der Seite der einfachen Leute steht, von der Perspektive her gesehen. 

Und trotz aller Brutalität ist es ein liebevolles Buch, mit großer Hingabe ans Detail, auch wenn nirgendwo (!) beschrieben wird, wo die Hektoliter von Selbstgebranntem, die sie sich in den Hals schütten, herkommen und wie man ihn herstellt. 

 

SovielZeitmusssein – Frank – Buch #1 – Filmplakat "Der stille Don" von Michael Scholochow
SovielZeitmusssein – Frank – Buch #1 – Filmplakat zum 3. Teil
(J) Buch #1 Der Gesang der Flusskrebse

(J) Buch #1 Der Gesang der Flusskrebse

Der Gesang der Flusskrebse

Buch #1

Ein Buch von Delia Owns, Übersetzung ins Deutsche von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann, erschienen 2019 bei hanserblau.

Ein siebenjähriges Mädchen wird in relativ kurzer Zeit erst von der Mutter, dann von den fünf Geschwistern und am Ende vom Vater verlassen. Wie es sich in diesem Leben und mit seiner Natur in den Sümpfen der Marsch von North Carolina einrichtet, mit wessen Hilfe sie lernt und überlebt und sich dem Leben der Zivilisation komplett entzieht, das ist ein Thema des Buches.

Ein weiteres Thema wirkt wie ein Krimi, handelt von Liebe und Lust, unbedingte Freiheit und gesellschaftlicher Norm. Denn zu einer wilden Schönheit herangewachsen, wird die junge Frau gleich von zwei gleichaltrigen Männern entdeckt und umworben.

Letzten Endes ist dieses Buch eine Liebeserklärung an die Natur, an das Leben, an die persönliche Selbstwirksamkeit, an Menschenwürde und Gerechtigkeit.

Wir alle können mehr schaffen, als wir uns vorzustellen wagen. Doch diese Quintessenz kommt nicht mit erhobenem Zeigefinger daher, sondern gräbt sich während des Lesens tief in die Gehirnwindungen und körperlichen Empfindungen ein. Ja, ein körperliches Erleben, dieses Buch.

Die Frage, ob Flusskrebse denn tatsächlich singen können, beantwortet die Autorin in einem Gespräch:
„Rein wissenschaftlich-technisch können Flusskrebse nicht singen. Ich habe jedoch eigene Studien betrieben. Ich habe dabei Folgen-des herausgefunden: Als erstes musst du – ganz alleine – ein einfaches Lager in der echten Wildnis aufschlagen. Also an einem Ort, weit weg von Straßen oder Dörfern. Kein Park, sondern ein abgelegenes, wildes Fleckchen Land voller irdischer Kreaturen. Bei Beginn der Dämmerung musst du tief in den Wald hineinlaufen. Dort stehst du ungeschützt und ganz alleine, während sich die Dunkelheit um dich legt. Wenn du fühlen kannst, wie der Planet unter deinen Füßen und die Bäume um dich herum sich bewegen, musst du mit offenen Ohren zuhören – und ich verspreche, du wirst die Flusskrebse singen hören. Und tatsächlich wird es ein ganzer Chor sein.“

 

Empfehlung: absolut lesenswert ⭐️ ⭐️ ⭐️ ⭐️ ⭐️

Hier ist eine Leseprobe vom Verlag. Aber lieber gleich das ganze Buch lesen kiss.

Weitere Informationen zum Buch findest Du hier bei Wikipedia.

SovielZeitmusssein – Buch #1 – Titelbild des Buches "Der Gesang der Flusskrebse" von Delia Owens
SovielZeitmusssein – Buch #1 – Inhalt-Klappentext des Buches "Der Gesang der Flusskrebse" von Delia Owens
SovielZeitmusssein – Buch #1 – Kurzbio-Klappentext des Buches "Der Gesang der Flusskrebse" von Delia Owens