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So viel Zeit muss sein – Porträt von Frank

Was wir lesen

Buchvorstellung #1

Elisa hatte den Vorschlag gemacht, dass wir uns gegenseitig die Bücher vorstellen, die uns derzeit am meisten gefallen, wie sich herausstellte, auf Grund eines kindlichen Traumas, weil sie als Fünfjährige damals noch kein „richtiges“ Buch vorstellen konnte mangels entsprechender Lesefähigkeiten. Aber schon damals soll sie sich zu helfen gewusst haben und kam mit „Petterson und Findus“ um die Ecke.

Unsere erste Buchvorstellungsrunde folgte keinem Thema. Jede(r) sollte ein Buch vorstellen, das ihm oder ihr am Herzen lag, und von dem er/sie denkt, es sei sehr lesenswert, mehr nicht.

Es gab fünfzehn Minuten pro Vorstellung und ein bisschen Zeit für die Ah‘s und Oh’s. Zwei alte weiße Männer saßen am Tisch, zwei gut erhaltene reifere Damen und zwei Früherwachsene, noch kinderlose, aber schon gut erzogene künftige Stützen unserer Gesellschaft.

Das Los erwählte mich, Frank Georg, zum ersten Vorsteller, und ich hatte mir Anne Applebaums „Roter Hunger“ ausgesucht.

Dieses Buch hat mich sehr beeindruckt, weil es die Geschichte der Entstehung der Ukraine als Staat, die eng verbunden ist mit der Geschichte der Entstehung der Sowjetunion, erzählt, mit dem furchtbaren „Höhepunkt“ der bewusst oder unbewusst von Stalin herbeigeführten Hungersnot von 1932/33, die Millionen Menschen das Leben kostete, ein furchtbares Lehrstück über die Folgen staatlich verordneter Umwälzungen, die eher einer Ideologie als rationalen Zielen entspringen.

Was auffällt ist, dass es zwischen der Ukraine und Russland schon vor hundert Jahren genauso, eher schlimmer zuging als heute: Krieg und Bürgerkrieg, Kampf gegen oder um die Benutzung einer Sprache, Entführung und Mord von Künstlern und Intellektuellen oder anderer lokaler Eliten. Anne Applebaum hat eine sehr strukturierte und flott zu lesende Art zu schreiben. Das Buch ist eine einzige atemlose Lektüre, spannend, informativ, aber nichts für zarte Gemüter, denn wenn es irgendwo noch drastischer zugegangen ist als in Deutschland unter den Nazis, dann dort.

Ich empfehle dieses Buch für jeden, der verstehen will, was da gerade zwischen Russland und der Ukraine abgeht.

Die zweite Vorstellende war Jana, die Geflochtenes Süßgras von Robin Wall Kimmerer vorstellte. Dieses Buch hat sich über eine Zeit von mehreren Jahren zum internationalen Bestseller entwickelt, kein Produkt also einer besonders raffinierten Marketing-Kampagne.

Die Autorin ist Botanikerin, Abkömmling der Potawatomi, die an den großen Seen ansässig waren. Jana sagte den schönen Satz: Sie verbindet Wissenschaft mit Wissen. Was sie meinte: sie verbindet auf sprachlich eindrückliche Weise (die deutsche Übersetzerin Elsbeth Ranke wurde sehr lobend erwähnt) das uralte Wissen ihres Stammes mit den modernen Methoden der Naturwissenschaft, z.B. im Zusammenhang mit den drei Schwestern, dem Mais den Bohnen und dem Kürbis, die zusammen angepflanzt sich gegenseitig beschützen und unterstützen. Der Mais wächst hoch und kräftig, an ihm kann sich die Bohne emporranken, er spendet Schatten. Des Kürbis‘ große Blätter bedecken den Boden und verhindern, dass er austrocknet und halten das Unkraut in Schach. Aber man wusste nicht, ob auch die Bohne etwas beisteuert. Heute weiß man, dass sie den Boden mit Stickstoff düngt.

Diese Sache mit den drei Schwestern steuerte Helga bei, die Co-Vorstellerin des Buches.

Ein weiteres Detail betraf einen Widerstand gegen die pledge of allegiance, den Treueschwur der Amerikaner (den Elisa noch vollständig aufsagen konnte), weil Freiheit und Gerechtigkeit für alle sich für einen „Indianer“ schal und verlogen anhört.

Schöner und sinnvoller wäre doch ein Dankbarkeitsritual, zum Beispiel Dank an alle Tiere, unsere Gedanken und Herzen sind vereint. So ein Ritual würde einem das Gefühl vermitteln, reich zu sein (und nicht Teil einer Anhäufungsgesellschaft). In einer Konsumgesellschaft ist Zufriedenheit ein subversiver Gedanke, ein radikaler Vorschlag. Die Leistungsgesellschaft braucht ein Gefühl der Leere, gegen die eine Ethik der Fülle zu setzen wäre.

Ein schöner Satz war noch: Wenn man gehört werden will, muss man die Sprache dessen sprechen, der zuhört.

Und es ging noch um die ehrenhafte Ernte. Indianer haben die Hälfte der Ernte stehen lassen. Fallenstellerei war ihnen ein unehrenhaftes Verhalten. Es erinnert mich an mein Lieblingsbuch der Jugend „Die Söhne der großen Bärin“, wo einem getöteten Bären im Bärentanz die letzte Ehre erwiesen und sein Geist versöhnt wurde.

Jana empfiehlt das Buch „Geflochtenes Süßgras“ als eine sehr erbauliche und beglückende Lektüre.

Dann wurde die Initiatorin der Runde gezogen, Elisa, und ihr derzeitiges Lieblingsbuch ist „Lessons in chemistry“, deutscher Buchtitel: „Eine Frage der Chemie“ von Bonnie Garmus.

Ich habe herausgehört, dass dieses Buch sie sehr motiviert, sich von widrigen Umständen und/oder Schicksalsschlägen nicht entmutigen zu lassen. Die Hauptheldin ist schon als Kind eine „Hemdblusenkleiderhosen-Trägerin gewesen. Sie kämpft gegen Männer, die sich ihr in den Weg stellen. Es ist ein wirres Sammelsurium an Widerständen, mit denen Elizabeth Zott in den Fünfzigern und Sechzigern in den USA zu kämpfen hat. Sie kann nicht promovieren, weil sie sich gegen eine Vergewaltigung wehrt. Sie findet einen, den sie liebt, „weil“ er ihr vor die Füße gekotzt hat, will ihn aber nicht heiraten, weil sie ihren Namen nicht behalten dürfte. Ihnen läuft ein Hund zu, den sie Halbsieben nennen, die Gemeinde führt einen Leinenzwang für Hunde ein, der Hund erschrickt, zerrt an der Leine, ihr Mann fällt zu Boden und wird totgefahren. Halbsieben ist totunglücklich.

Der Hund hat aber eine Menge guter Fähigkeiten (es ist ein ehemaliger Sprengstoffspürhund), kommuniziert mit dem Kind in ihrem Bauch und dem toten Mann unter der Erde. Er rettet sie, als sie, mittlerweile Gastgeberin einer Fernsehkochshow, von wütenden Evangelikalen mit dem Tode bedroht wird, weil sie offenbart hat, dass sie nicht an Gott glaubt. Im Grunde ist es ein Buch über eine Frau, die an vielen Stellen gegen die Normen der Zeit lebt und deshalb in eine Menge schwierige Situationen gerät.

Elisa empfahl das Buch wärmstens auch zum Englisch lesen und lernen. Sie hat ihr Exemplar, wo sie die schwierigen Wörter schon mal übersetzt hat, dagelassen.

Dann war Henrik dran, einer der zwei alten weißen Männer, der zunächst, wie sich später herausstellte, um die Runde ein wenig heiterer zu stimmen, Heinrich Heine „Aus den Memoiren des Herrn Schnabelewobski“ vorlas – und obwohl ich mich als Freund Heines betrachte, hatte ich davon noch nie etwas gehört. Es ging um den Fliegenden Holländer, der erst Frieden findet, wenn eines Weibes Treue ihn erlöst, was selbstverständlich schwerhält.

Das war sehr amüsant, aber Henrik wollte uns eigentlich Theodor Plieviers „Stalingrad“ und die Plievier-Biographie „Anarchist ohne Adjektive“ von Wolfgang Haug nahebringen. Und so hat er es charmant geschafft, die Regel zu umschiffen, nur ein Buch vorzustellen. Ich bleibe mal hier bei „Stalingrad“, ein Buch, das auf Augenzeugenberichten beruht, denn Plievier war damals in Moskau, sollte Briefe deutscher Soldaten auswerten und durfte Überlebende interviewen. Das Buch ist also von weitgefächerten Erfahrungen bestimmt. Es ist Teil einer Trilogie, zu der noch „Moskau“ und „Berlin“ gehören. Weil er halt den Schnabelewobski vorgelesen hatte, blieb nicht mehr viel Zeit, aber mein Interesse ist geweckt.

Henrik empfiehlt diese Bücher, weil sie einfach interessant sind.

Last but not least begann Angelo mit einem Prolog, der sich wie der Beginn eines Thrillers ausnahm, die Landung einer Anti-Wildlife-Crime-Unit im philippinischen Urwald aus der Sicht des Fotografen beschrieb, die ein Gelände von allen Seiten stürmen sollten, um Wilderern das Handwerk zu legen. Der Fotograf wundert sich für den Leser ein wenig, dass er als 32-jähriger Meeresbiologe und Wehrdienstverweigerer hier ehrenamtlich und unbezahlt auf Verbrecherjagd geht, denkt über die Vor- und Nachteile eines Messers mit feststehender Klinge als Bewaffnung im Nahkampf (unter sieben Meter) nach.

Aber: es handelt sich um ein Sachbuch: „Mission Erde“ von Robert Marc Lehmann, dem ehemaligen Leiter des Ozeaneums in Stralsund, dem er jedoch den Rücken kehrte, als er mit der Zoo- und Aquarium-Industrie brach. Nun zieht er durch die Welt, rettet Regenwald, Orcas, Schildkröten und versucht, als Vortragender in Schulen, bestimmt auf Insta oder sonstwo so viele wie möglich Menschen zu erreichen. Angelo konzentrierte sich auf Lehmanns Zusammenarbeit mit der Orca-Forscherin Ingrid Visser, erzählte von den Langfristfolgen der Havarie der Exxon Valdez 1989 für die Population dieser Wale.

Angelo empfiehlt das Buch, weil er den Robert Marc schon lange im Internet verfolgt und begeistert von seinem Engagement ist.

Vielen Dank, liebe Elisa, für die Idee, hat viel Spaß gemacht – und es ist doch erstaunlich, wie unterschiedlich die Bücher waren, von dem ganz aktuellen Thema der Rettung des Planeten (und damit vielleicht auch der Menschheit) bei Angelo (27) über den Versuch, alte und neue Weisheiten zu versöhnen bei Jana (54) hin zu einem Roman, der sich mit dem Prozess der Erlangung der Gleichberechtigung der Frau bei Elisa (21) (O-Ton: in Deutschland sind Frauenrechte schon ziemlich equal zu denen der Männer), bis zu den in den Tragödien des letzten Jahrhunderts versunkenen VAWM (60 und 65), auch wenn Frau Applebaum als Autorin nicht zu dieser Kategorie zählt, obwohl sie auf die 60 zugeht.

Vielleicht schaffen wir es Weihnachten das nächste Mal, so eine Büchervorstellung zu veranstalten.