Weiße Flecken
Letterladys #5
Im fünften Treffen der Letterladys ging es diesmal ganz konkret um ein Buch: „Der Apfelbaum“ von Christian Berkel. Und hier wiederum ganz konkret um die weißen Flecken in der Erinnerung an die Geschichte.
Irgendwann muss doch mal Schluss sein.
Für mich D E R Satz in diesem Buch. Der Wunsch einer Deutschen Frau, die es nicht aushält, dass auch Jahre und Jahrzehnte nach dem Ende des 2. Weltkrieges Menschen zu ihr kommen, die als jüdische Kinder vor dem großen Wahnsinn auf ihrem Hof gelebt hatten. Sie kommen, um sich zu erinnern. Um das Geschehene zu verarbeiten. Und genau das ist so oft und von vielen bis heute nicht aushaltbar.
Und wir vier Letterladys finden eben auch ganz schnell in unserem Gespräch über dieses Buch, diese Familiengeschichte, diese deutsche Geschichte auf unsere eigenen Familien und die weißen Flecken in den Biografien zu sprechen. Wie viel Verdrängung und wie viel Vergessen es brauchte, um dann im Alter bzw. in der nachfolgenden Generation (unserer Generation) immer noch als unbearbeitet hervorzubrechen. Als etwas, das fehlt. Fehlende Trauerarbeit. Fehlendes Verzeihen. Fehlendes Integrieren.
Diese weißen Flecken zu integrieren, darum geht es in diesem Buch. Der Autor findet den Weg ausgerechnet über die Demenz, das schwindende Erinnerungsvermögen der Mutter. Denn auch ihre Fähigkeit, die Erinnerung zu kontrollieren, sie kontrolliert und auch zensiert weiterzugeben, wird schwächer. Dadurch setzen sich Puzzle-Stücke anders zusammen, die Geschichte verändert sich, Verletzungen werden sichtbar, und Christian Berkel kann Ursachen für das eigene Unbehagen ergründen – das Erbe seiner Generation. Sie werden beschrieben, die Gräueltaten, die Not, die Angst und Resignation. Auch 75 Jahre nach Ende des Krieges scheinen wir nicht fertig zu sein mit unserer Geschichte. Wir dürfen auch heute noch nicht schweigen. Nicht weggucken.
Andere Bücher anderer Schriftsteller und eine spannende Quelle fanden dabei in unser Gespräch:
„Die vergessene Generation – Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen“ von Sabine Bode
„Eine Frau in Berlin“ von Anonyma (Marta Hillers, 1911–2001)
Zeitzeugenportal. In über 8000 Clips aus Interviews mit mehr als 1000 Menschen finden sich hier zu den verschiedenen Epochen der deutschen Geschichte, beginnend mit dem 1. Weltkrieg 1914 bis zum 11. September 2001 Geschichten, Erinnern und Entdeckungen.
Zum Buch „Der Apfelbaum“
Schauspieler haben Stimme. Könnte man so stehen lassen. Doch manchmal tragen sie auch die große Begabung des Schreibens in sich. So geschehen mit dem Schauspieler Christian Berkel. In seinem Roman „Der Apfelbaum“ begibt er sich mit dem Älterwerden seiner Mutter Schritt für Schritt in seiner Familiengeschichte zurück. Natürlich hat er dafür auch Archive besucht, in Briefwechseln gelesen, Reisen unternommen. Herausgekommen ist ein großer Familienroman über drei Generationen im Spannungsfeld eines Jahrhunderts deutscher Geschichte und die Erzählung einer ungewöhnlichen Liebe.
Herausgegeben wurde der Roman bei Ullstein. Doch noch viel beeindruckender erscheint mir das vom Autor selbst eingesprochene Hörbuch.
Wer ist „Ada“?
Im „Apfelbaum“ findet Ada bereits ihre Rolle als erfundene ältere Schwester des Autors. Doch sie und ihr totgeborener Zwilling erhalten eine eigene Geschichte in einem zweiten Buch.
„Im Wirtschaftswunderland fühlt Ada sich völlig fremd. Ihre Mutter und die anderen Erwachsenen geben keine Antworten: Ist sie argentinisch oder deutsch, katholisch oder jüdisch? Über alles wird geschwiegen, vor allem über den Krieg. ‚Niemand sprach. Weil nicht sein konnte, was nicht sein durfte, war nichts geschehen. Aber ihre dumpfe Angst, es könnte sich wiederholen, erinnerte sie daran, dass da noch etwas war. Diese Angst wurde zu unserer Mitgift’, liest Berkel aus seinem Buch vor.” Hier eine Besprechung dazu.
Was bei diesem Ladys-Treffen noch geschah
Wir sprachen über ein zauberhaftes Konzert der Chorsolisten der Komischen Oper, zu dem ich bereits hier einen Beitrag geschrieben hatte.
Wir fabulierten über die Frage, welche Berliner Theater auf die Sommerpause verzichten und die Monate ohne Virus einfach durchspielen. Dazu zählt z.B. die Schaubühne, die am 1. Juli mit einer Premiere von „Michael Kohlhaas“ von Heinrich von Kleist aufwartet.
Wir freuen uns auf großes Kino und die dänische Tragikomödie „Der Rausch“, die am 22. Juli in die Kinos kommt und 2021 als bester internationaler Beitrag einen Oscar bekam.
Und wir bekamen den Tipp für eine sehenswerte und aufwühlende Filmserie auf arte: „Die Meute“.
Das Beste zum Schluss
Und weil es so schön ist zum Schluss ein Gedicht von Joseph von Eichendorff, welches ein Stück aus dem Werk von Robert Schumann und damit ein Lied der „Mondnacht“ der komischen Oper war:
Mondnacht
Es war, als hätt‘ der Himmel
die Erde still geküsst,
dass sie im Blütenschimmer
von ihm nur träumen müsst!
Die Luft ging durch die Felder,
die Ähren wogten sacht,
es rauschten leis‘ die Wälder,
so sternklar war die Nacht.
Und meine Seele spannte
weit ihre Flügel aus,
flog durch die stillen Lande,
als flöge sie nach Haus.
(Joseph von Eichendorff)